Zwischen Tarifflucht und Pflichtmitgliedschaft
Workshop zur Entwicklung der Tarifautonomie in Deutschland & Österreich
Am 1. September 2022 fand unser Workshop zum Stand und Entwicklung der Tarifautonomie in Deutschland und Österreich statt. Unter dem Motto „Zwischen Tarifflucht und Pflichtmitgliedschaft“ diskutierten die Mitglieder des Promotionskollegs mit den eingeladenen Referent*Innen sowie interessierten Vertretern aus den Gewerkschaften die Spezifika der beiden Tarifvertragssysteme. Ausgangspunkt des Austauschs war die Beobachtung, dass beide Länder einerseits strukturelle Ähnlichkeiten aufweisen, sowie eng miteinander verflochten sind, sich andererseits aber fundamental in der jeweiligen Stabilität ihrer Tarifvertragssysteme unterscheiden. Während die Tarifbindung in Deutschland seit Jahrzehnten rückläufig ist und mittlerweile an der 50-Prozentmarke kratzt (oder sie je nach Statistik sogar bereits durchbrochen hat), liegt sie in Österreich stabil bei 98 Prozent.
Die Referent*Innen Susanne Pernicka, Thorsten Schulten, Martin Höpner und Susanne Haslinger beleuchteten in ihren Vorträgen daher die ökonomischen, politischen und institutionellen Unterschiede und Gemeinsamkeiten beider Länder. Den Anfang machte ein Input von Florian Rödl zum rechtswissenschaftlichen (Miss-)Verständnis der Tarifautonomie und den damit verbundenen Konsequenzen für die Rechtsprechung. Martin Höpner veranschaulichte in seinem Vortrag die sektorale Logik der deutschen Lohnentwicklung und kontrastierte sie mit der europäischen und vor allem der österreichischen Entwicklung. Susanne Pernicka sprach im Anschluss über den Wandel der österreichischen Sozialpartnerschaft am Beispiel der politischen Auseinandersetzungen um die Novelle des Arbeitszeitgesetzes. Im Anschluss erklärte Susanne Haslinger die Spezifika und institutionelle Einbettung der Sozialpartnerschaft und der Kollektivvertragspolitik in Österreich. Insbesondere das Kammersystem als institutioneller Stabilitätsfaktor für das Tarifvertragssystem stand dabei im Mittelpunkt. Das Kammersystem verpflichtet die Arbeitgeber sich einem Tarifvertrag zu unterwerfen und erschwert die Tarifflucht von Arbeitgebern.
Im Anschluss an die Vorträge entspann sich eine lebhafte Debatte über Möglichkeiten und Instrumente zur Stärkung des deutschen Tarifvertragssystems. Neben bekannten Instrumenten wie die Stärkung der Allgemeinverbindlichkeit und Vergaberichtlinien wurde insbesondere das Kammersystem in Österreich und eine mögliche Übertragung in Deutschland diskutiert. Dabei wurde deutlich, dass Österreich durchaus als Vorbild dienen kann, dass aber zugleich eine hohe Tarifbindung nicht automatisch vor niedrigen Löhnen schützt. Abgerundet wurde die Diskussion durch einen Vortrag von Thorsten Schulten über Ansätze zur Stärkung des Tarifsystems in Deutschland. Sein Vortrag gab u. a. Einblicke in die Arbeit der Arbeiterkammern in Bremen und des Saarlandes sowie in die Auseinandersetzungen um eine Arbeiterkammer in Thüringen. Zugleich formulierte er konkrete Vorschläge und Maßnahmen, wie das Tarifvertragssystem langfristig stabilisiert werden könnte.