Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz
15.01.2024

Kollektive Rechte im Europa der Polykrise

Der Einfluss der EU auf die Arbeitsbeziehungen in den Mitgliedstaaten hat in den letzten Jahren zugenommen. Die Krisenpolitik der EU, aber auch arbeitspolitische Initiativen wie die Mindestlohn- oder die Entsenderichtlinie zielten und zielen auf die Regulierung der Arbeitsbeziehungen. Gleichzeitig sind die kollektiven Rechte der Beschäftigten von den Entwicklungen auf europäischer Ebene betroffen. In einem gemeinsamen Workshop mit den europapolitischen Referent*innen der IG Metall, von ver.di und des DGB hat das Kolleg daher die europäische Dimension in den Blick genommen. Der Fokus auf kollektive Rechte strukturierte die Diskussion.

Dazu hatten wir kompetente Expert*innen eingeladen. Prof. Dr. Christian Joerges von der Universität Bremen eröffnete den Workshop mit einem Vortrag über das konfliktive Verhältnis von Wirtschaftsverfassung und Demokratie in der Europäischen Union. Daran schloss sich eine intensive Diskussion über die Dynamik der Europäischen Union und ihre bisher nur marginal ausgeprägte sozialpolitische Säule an.

Das zweite Panel widmete sich der New Economic Governance und den arbeitspolitischen Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters. Prof. Dr. Roland Erne vom University College Dublin und derzeit Gastwissenschaftler am Institut für Arbeitsrecht der Freien Universität Berlin präsentierte die Ergebnisse seiner sechsjährigen Forschungsarbeit in einem vom European Research Council geförderten Projekt. Er zeigte auf, dass die arbeitspolitischen Empfehlungen der Kommission nach wie vor einen kommodifizierenden Charakter haben, auch wenn seit einigen Jahren keine konkreten Kürzungsvorgaben mehr gemacht werden. Dr. Dominika Biegon vom Deutschen Gewerkschaftsbund kommentierte die Thesen, woraufhin sich eine Diskussion über die Rolle des Europäischen Semesters und dessen Einfluss auf die Arbeits- und Tarifbeziehungen in den Mitgliedstaaten entwickelte. Dabei wurde deutlich, dass die Politisierung und Interpretation der Empfehlungen Handlungsoptionen für progressive Akteure eröffnen kann. So verwies Roland Erne in der Diskussion auf Rumänien, das erst kürzlich sein Arbeitsrecht grundlegend reformiert und dabei u.a. das Streikrecht deutlich ausgeweitet hat.

Nach der Mittagspause wurden die jüngsten sozialpolitischen Richtlinien und ihre Auswirkungen auf das nationale Recht diskutiert. Nach Inputs von Dr. Felix Syrovatka (FU Berlin) und Dr. Torsten Müller vom Europäischen Gewerkschaftsinstitut entwickelte sich eine Diskussion über die rechtliche Verbindlichkeit und politische Wirkung der Mindestlohnrichtlinie. Beide Referenten machten deutlich, dass die Mindestlohnrichtlinie vor allem die gesellschaftlichen Machtressourcen der Gewerkschaften stärkt, da sie konkrete diskursive Anknüpfungspunkte für die nationalen Debatten bietet. Insbesondere das 80-Prozent-Ziel für die Tarifbindung sei ein zentraler Ansatzpunkt für die Gewerkschaften, um eine umfassende politische Stärkung der Tarifautonomie einzufordern. Gleichzeitig wiesen beide Referenten darauf hin, dass die Wirkung der Richtlinien immer auch von den nationalen Kräfteverhältnissen und dem strategischen Handeln der Gewerkschaften abhänge. Diskutiert wurde auch, wie die jüngsten sozialpolitischen Initiativen der EU zu bewerten seien und ob sie tatsächlich einen institutionellen Mehrwert böten.

Der letzte Punkt des Workshops behandelte die aktuellen Diskussionen über mögliche Vertragsänderungen und eine damit verbundene Erweiterung der EU. Die Länder des Westbalkans, Moldawien und die Ukraine stehen derzeit im Mittelpunkt der neuen Erweiterungsdiskussion. Nach einem Input von Dr. Felix Syrovatka zur aktuellen Debatte und den vielfältigen Reformvorschlägen erläuterte Prof. Dr. Florian Rödl seinen Vorschlag für einen europäischen Pakt für sozialen Fortschritt. In der anschließenden Diskussion ging es vor allem um mögliche Auswirkungen der Erweiterung auf die Tarif- und Arbeitsbeziehungen in Deutschland.

Insgesamt stieß der Workshop auf großes Interesse und war durch die unterschiedlichen Perspektiven aus Wissenschaft und gewerkschaftlicher Praxis für alle Seiten erkenntnisreich.

Unser Kolleg