Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz
05.06.2023

Vortragsreihe 2023: Tarifbürgerschaft

Bericht über Vortragsreihe

Felix Syrovatka

Mit einem Vortrag von Florian Rödl endete am vergangenen Mittwoch unsere diesjährige Vortragsreihe zum Thema „Tarifbürgerschaft - Tarifautonomie und demokratische Staatlichkeit“. In Zusammenarbeit mit dem Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut der Hans-Böckler-Stiftung hatten wir im Mai 2023 fünf Vorträge von international renommierten Wissenschaftler*innen organisiert, die den demokratietheoretischen Gehalt der Tarifautonomie und ihr Verhältnis zur parlamentarischen Demokratie erörterten. Ausgangspunkt des politik-, sozial- und rechtswissenschaftlichen Dialogs der Vortragsreihe war das von Thomas Marshall geprägte Konzept der Industrial Citizenship.

Den Auftakt machte Wolfgang Streeck mit seinem Eröffnungsvortrag über die Doppelherrschaft von Tarifautonomie und parlamentarischer Demokratie. Darin wies er auf die Systemfremdheit der Tarifautonomie innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft hin. Denn die Tarifautonomie, so Streeck, widerspreche konstitutiv dem bürgerlichen Rechtsverständnis, da die Tarifautonomie mit dessen Grundprinzipien, dem Eigentums-, Vertrags- und Wettbewerbsrecht, in einem systematischen Konflikt stehe.

Demgegenüber verwies Stefanie Hürtgen auf den Modus der demokratischen Vergesellschaftung von Arbeit, der durch die Tarifautonomie organisiert und ermöglicht werde. Diese führe dazu, dass das Arbeitsverhältnis nicht nur ein nacktes und individuelles Vertragsverhältnis darstelle, sondern ihm ein gesellschaftlicher Status zukomme. Arbeit wird Teil eines gesellschaftlichen Gesamtinteresses, aus dem sich ein Anspruch auf gesellschaftliche Mitbestimmung ableitet.

Dass sich in der Tarifautonomie der Klassenkonflikt institutionalisiert, betonte Ingrid Artus im dritten Vortrag unserer Reihe. Der Kampf der Arbeiterbewegung, so Artus, sei immer grundsätzlich mit einem demokratischen Anspruch auf Mitbestimmung verbunden gewesen. Dieser sei jedoch insbesondere mit der Krise des Flächentarifvertrages zunehmend verschüttet worden. Heute tauche der Klassenkonflikt in verschiedenen Arbeitskämpfen, wie z.B. in der Tarifauseinandersetzung in der Pflege und in den Krankenhäusern, wieder stärker auf, wodurch auch der demokratische Anspruch wiederbelebt werde.

Der Arbeitskampf um Entlastungstarifverträge in Krankenhäusern wie der Charité war auch ein Beispiel, an dem Thorsten Schulten seine These vom Tarifvertrag als Instrument einer grundlegenden Demokratisierung der Wirtschaft illustrierte. In seinem Vortrag stellte er die ideengeschichtlichen Grundlagen des deutschen Tarifvertragssystems dar und plädierte dafür, das Verständnis der Tarifautonomie im Sinne Hugo Sinzheimers als „soziale Selbstbestimmung der Klassen“ zu fassen und in der rechts- und sozialwissenschaftlichen Diskussion stark zu machen.

Im letzten Vortrag der Reihe stellte Florian Rödl sein Konzept der Tarifbürgerschaft vor und skizzierte eine rechts- und demokratietheoretische Perspektive auf die Tarifautonomie. Er argumentierte, dass Tarifbürgerschaft parallel zur Staatsbürgerschaft zu denken sei und das Streikrecht eine ähnliche demokratische Funktion erfülle wie das Wahlrecht. Damit skizzierte er den Diskussionsstand unseres Kollegs und zeigte weiteren Forschungsbedarf auf.

Insgesamt stießen die Vorträge auf reges Interesse. Sowohl im Otto-Suhr-Institut als auch online im Livestream besuchten durchschnittlich ca. 80 Teilnehmer*innen die jeweiligen Vorträge. Das Thema Tarifbürgerschaft wird auch in Zukunft weiter bearbeitet werden. Die Ringvorlesung wird voraussichtlich in einem Sammelband dokumentiert werden.

Unser Kolleg