Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz
09.11.2023

Tarifautonomie, Tarifbürgerschaft & Wirtschaftsdemokratie

Vortrag von Prof. Dr. Florian Rödl auf der GIRA Jahrestagung 2023

Am 2. und 3. November 2023 fand die Jahrestagung der German Industrial Relation Association statt. Im folgenden dokumentieren wir den Vortrag von Prof. Dr. Florian Rödl mit dem Titel "Tarifautonomie, Tarifbürgerschaft & Wirtschaftsdemokratie. Oder: Zur Zweifaltigkeit der modernen Demokratie". Der Vortrag kann ebenfalls als PDF heruntergeladen werden.

I. Einleitung

In meinem Vortrag heute möchte ich der Frage nachgehen, welche Rolle der Tarifautonomie in einer Theorie der demokratischen Verfassung der modernen Gesellschaft zukommt. Als Kontrapunkt stelle ich zunächst die in der Wissenschaft vom Arbeitsrecht vorherrschende Konzeption der Tarifautonomie vor, die diese Frage im Ansatz zurückweist, denn ihr zufolge ist Tarifautonomie Privatsache. Dem halte ich erst einmal entgegen, dass Tarifvertragsparteien die Arbeitsbeziehungen mit rechtlichen Mitteln gestalten, und das ist sicher keine Privatsache. Sodann befrage ich die Angebote kritischer Demokratietheorie in der politischen Philosophie, finde dort aber zur Tarifautonomie eigentlich nichts, allenfalls eine gewisse Unterstützung für die Konzeption von Tarifautonomie als Privatsache. Darum setze mit den Stichworten von Tarifbürgerschaft und Wirtschaftsdemokratie meinen eigenen Vorschlag ans Ende.

II. Tarifautonomie als Ausdruck privater Autonomie?

In der Wissenschaft des Arbeitsrechts heißt es verbreitet, der Abschluss eines Tarifvertrags sei Ausdruck privater Autonomie. Es soll sich dabei, genauer, um eine Verkettung von privatautonomen Akten zu einer Einheit handeln. Erst werden einzelne Arbeitnehmer und Arbeitgeber in Akten der Privatautonomie in ihre Verbände aufgenommen. Dann schließen die Verbände in einem weiteren Akt der Privatautonomie einen Schuldvertrag über Arbeitsleistungen, so wie man auch Schuldverträge über Dienstleistungen schließt. Zwar wird zugegeben, dass das Tarifvertragsgesetz diesen privatautonomen Vereinbarungen den Status von Rechtsnormen verleiht. Aber deren Geltung sei auf die Arbeitsverhältnisse zwischen den Mitgliedern beschränkt. Denn nur die Mitglieder sollen die Verbindlichkeit der Normen für ihr Arbeitsverhältnis durch den privatautonomen Akt des Beitritts legitimiert haben. Und diese individuelle Legitimation sei notwendig, wenn und weil die Tarifautonomie eben insgesamt eine Erscheinung der Privatautonomie sein soll.

Wesentliche Implikation dieser Vorstellung ist eine dramatische Verkürzung, geradezu Verkümmerung der Tarifautonomie und damit auch des Mandats der Gewerkschaften. Denn die Reichweite der Rechtsnormen eines Tarifvertrags ist damit auf den aktuellen Mitgliederbestand einer Gewerkschaft beschränkt. Angesichts des langfristigen Trends sinkender Mitgliederzahlen ein geradezu genialer Zug, wenn man der Tarifautonomie das Wasser abgraben will. Damit sind Gegenstand der Tarifautonomie nicht mehr die Arbeitsbeziehungen schlechthin, sondern nur die Arbeitsbeziehungen der Mitglieder. Gewerkschaften haben nicht mehr die besondere Berufung zu einer Vertretung der Interessen der abhängig Beschäftigten zu vertreten, sondern sind zu einem gewöhnlichen Interessenverband degradiert.

Gegenwärtig müssen wir in der Rechtswissenschaft darum kämpfen, dass diese Geschichte von der Privatautonomie nicht auch noch in die verfassungsrechtliche Garantie der Koalitionsfreiheit in Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz hineingelesen wird. Denn das hätte zur Folge, dass die negative Koalitionsfreiheit eine geradezu zersetzende Bedeutung erhielte: Dann würde jede Ausdehnung der tarifvertraglichen Gestaltungsmacht über den aktuellen Mitgliederbestand hinaus, die das geltende Recht vorsieht oder die der Gesetzgeber zur Stützung des Systems schaffen könnte, zu einem Grundrechtseingriff, der hohen Rechtfertigungslasten unterläge und darum meist verfassungswidrig wäre.

Dass diese Konzeption einer verkümmerten Tarifautonomie als Privatautonomie in der Rechtswissenschaft so viele Anhänger finden konnte, hat allerdings einen Grund, den wir vor Augen haben müssen. Der Grund liegt darin, dass sie die einzige Alternative schien zu einer Vorstellung von der Tarifautonomie als Delegation einer eigentlich beim Staat liegenden Befugnis der Gestaltung der Arbeitsbeziehungen. Diese Vorstellung wollte man hinter sich lassen, und auch aus meiner Sicht völlig zurecht. Doch die Alternative darin zu suchen, Tarifautonomie zu einer Form von Privatautonomie zu erklären, ist eine Sackgasse und zwar zudem eine recht kurze.

 

III. Tarifautonomie beinhaltet Rechtsnormsetzung

Privatautonomie bezeichnet nämlich das Vermögen, den durch subjektive Rechte abgesteckten Raum der eigenen Handlungsfreiheit, also der Freiheit im Verhältnis zu allen anderen, nicht nur nach eigenem Willen, sondern auch kraft eigenen Willens umgestalten zu können. Es gehört zur Privatautonomie, in Berührungen des eigenen Körpers einzuwilligen. Es gehört zur Privatautonomie, Eigentum zu erwerben, zu veräußern oder aufzugeben. Es gehört zur Privatautonomie, Leistungen zu erwerben im Austausch für das verbindliche Versprechen der eigenen Leistung. Es gehört auch zur Privatautonomie, einem Verein beizutreten, eine Personengesellschaft zu gründen oder Kapitalgesellschaftsanteile zu erwerben.

Es gehört aber nicht zur Privatautonomie die Normen festzulegen, nach denen sich all diese Umgestaltungen des Raums der individuellen Handlungsfreiheit vollziehen. Das ist die Leistung objektiven Rechts. Das gilt schon für eigenen privatautonome Vollzüge. Es gilt erst recht für die privatautonomen Vollzüge Dritter. Daran ändert sich nichts, wenn diese Dritten Mitglieder eines Vereins sind, der diese Normen setzen soll. Auch nicht, wenn der Verein sich wiederum privatautonom den besonderen Zweck der Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen gesetzt hat.

Eben das ist aber, was Koalitionen als Tarifvertragsparteien tun: Sie setzen Normen, nach denen sich der Tausch von Arbeitsleistung gegen Entgelt richtet. Sicher, die Reichweite der Geltung dieser Normen ist nach dem Tarifvertragsgesetz bemerkenswert gestuft: Individualnormen gelten für die Arbeitsverhältnisse zwischen den Mitgliedern, Kollektivnormen gelten für die Arbeitsverhältnisse bei den Mitgliedern des Arbeitgeberverbands, bei Allgemeinverbindlichkeit gelten sie für die jeweils übrigen Arbeitsverhältnisse. Aber diese gestufte Reichweite spielt natürlich für die Charakterisierung als Normen, objektives Recht keine Rolle.

Mit Blick auf den Austausch von Arbeitsleistung gegen Entgelt leisten die tarifvertraglichen Normen dasselbe wie ein Arbeitsvertragsgesetz. Es bildet daher durchaus einen Meilenstein der Geschichte des deutschen Tarifvertragsrechts, dass das Tarifvertragsgesetz den tarifvertraglichen Arbeitsbedingungen förmlich den Status von Rechtsnormen verliehen hat. Denn es heißt in § 1 Abs. 1 TVG: „Der Tarifvertrag … enthält Rechtsnormen …“. Diese gesetzliche Zuerkennung ist allerdings gerade nicht konstitutiv für die normsetzende Funktion eines Tarifvertrags. Auch wenn kein Gesetz die Anerkennung als Rechtsnormen statuiert, wie in der Tarifvertragspraxis der Kaiserzeit und heute im englischen Tarifvertragssystem, bleibt es dabei, dass die Tarifvertragsparteien vielleicht keine Rechtsnormen, aber allemal Normen setzen für den privatautonomen Austausch Dritter.

Tarifvertragliche Normen für den entgeltlichen Austausch der Arbeitsleistung zielen auf das ab, worauf gesetzliches Schuldvertragsrecht grundsätzlich abzielt: darauf, dass Inhalt und Bedingungen der Leistungen so bestimmt sind, dass sich ihr Austausch zum fairen Preis und zu fairen Bedingungen vollzieht. Und soweit, wie meist, die Arbeitsleistung nicht allein, sondern mit anderen zusammen erbracht wird, gibt es nicht nur individuelle Arbeitsbedingungen, sondern auch kollektive Arbeitsbedingungen. Darum kann man sagen: Tarifverträge verwirklichen die Gerechtigkeit in den Arbeitsbeziehungen. Es ist die Gerechtigkeit, um die es eben geht, nur gehen kann, aber auch gehen muss unter den Bedingungen von Privateigentum an Boden und Produktionsmitteln einerseits und freiem Arbeitsvertrag andererseits.

IV. Tarifautonomie im Licht kritischer Demokratietheorie

Wenn die Tarifautonomie essentiell die Setzung von Rechtsnormen für die privatvertraglich begründeten Arbeitsbeziehungen beinhaltet, dann stellt sich die Frage, wie sie sich in die Darstellungen der Theorien der Demokratie der modernen Gesellschaft einfügen. Als Setzung von Rechtsnormen müssen sie da eigentlich einen Platz erhalten. Befragen will ich hier diejenigen Theoretiker, sie sich selbst als Arm kritischer Gesellschaftstheorie verstehen, welcher also die gesellschaftliche Bedeutung von Privateigentum an Boden und Produktionsmitteln nicht unbekannt ist.

Nehmen wir uns erst Jürgen Habermas vor, seine Theorie des demokratischen Rechtsstaats in Gestalt seines Werkes „Faktizität und Geltung“. Es fällt zunächst ins Auge: Von der Tarifautonomie handelt das gesamte Werk an keiner Stelle. Sie kommt nicht vor. Es kommen nicht einmal Gewerkschaften explizit vor. Versuchen wir trotzdem, den Gewerkschaften einen Ort zuzuweisen in der Architektur des Theoriegebäudes. Die Habermas’sche Gesellschaft, das ist die gesamte Sphäre jenseits des Staates, ist zweigeteilt, in die bürgerliche Gesellschaft und in die Zivilgesellschaft. Die bürgerliche Gesellschaft ist die Sphäre der Ökonomie, also des Eigennutzes, des Marktes, des Privatrechts. Die Zivilgesellschaft ist die Sphäre der mehr oder weniger organisierten Öffentlichkeit. Dort werden in Vereinen, Gesellschaften, Initiativen oder Versammlungen - das heißt in privaten Formen und also außerhalb von Staat und Parteien - Fragen kontrovers erörtert, die gleichwohl auf die staatliche Gesetzgebung bezogen sind. Das Beste, was man auf dieser Grundlage über die Gewerkschaften sagen könnte, ist, dass sie immerhin in beide Bereiche gehören. Sie gehören immerhin auch in den Bereich der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit, indem sie ihre Stimme erheben für diesen oder jenen Akt der Gesetzgebung. Soweit die Gewerkschaften aber ihr originäres Feld bespielen, den Tarifkonflikt, sind sie offenbar Teil der bürgerlichen Gesellschaft, der Sphäre des Eigennutzes, des Marktes und des Privatrechts. Bürgerliche Akteure wie alle anderen, ohne weitere begriffliche oder gar normative Auszeichnung.

Aber damit nicht genug. Wie eingangs schon anklang, verdankt sich die gegenwärtig herrschende Vorstellung von Tarifautonomie als Privatautonomie auch der Vorstellung von einer Dichotomie von Privatautonomie und Staatsfunktion: Wer eine staatliche Delegation ablehnt, scheint nur die Privatautonomie wählen zu können. Eben diese begriffliche Dichotomie spielt bei Habermas nicht nur eine gewisse Rolle. Sie steht im Zentrum. Es ist das Herzstück seiner Theorie des demokratischen Rechtsstaats.

Für die Kennerinnen muss man wahrscheinlich nur sagen: „Kapitel 3“. Dort wird der Begriff einer Gleichursprünglichkeit von privater und politischer Autonomie entfaltet. Die politische Autonomie bezeichnet die gleichberechtigte Teilhabe des Staatsbürgers am Prozess der staatlichen Gesetzgebung. Die private Autonomie bezeichnet die Selbstbestimmung des Bürgers im Handeln mit Eigenem. Nach Habermas soll eine Gleichursprünglichkeit bestehen, weil die politische Autonomie die private voraussetze, die Reichweite der privaten aber in Ausübung der politischen bestimmt werden.

Es ist die ein Sache, ob das wirklich eine Gleichursprünglichkeit repräsentiert, aber das sei hier nicht weiterverfolgt.[1] Es ist die andere Sache, dass Tarifautonomie auf dieser Grundlage der Sphäre privater Autonomie zugewiesen sein muss. Als Ausdruck politischer Autonomie bestimmt die staatliche Gesetzgebung die Reichweite der Tarifautonomie. Die Wahrnehmung in den gesetzlichen Grenzen ist Ausdruck privater Autonomie. Tertium non datur  - auch bei Habermas.

Wenden wir uns, etwas ernüchtert, einem zweiten Vertreter der kritischen Demokratietheorie zu, Axel Honneth. Er macht es uns exegetisch leichter, weil er gerade kürzlich ein Buch veröffentlich hat, das eigentlich ins Schwarze treffen müsste: „Der arbeitende Souverän“. Und das Buch beginnt mit der vielversprechenden Diagnose, es gehöre „zu den größten Mängeln fast aller Theorien der Demokratie, … immer wieder zu vergessen, dass die meisten Mitglieder des von ihnen lauthals beschworenen Souveräns stets auch arbeitende Subjekte sind“. Im Kontrast hierzu, will Honneth der abhängigen Arbeit einen hohen Stellenwert für eine Theorie der Demokratie zuweisen.

Fragen wir auch hier zunächst etwas schlicht nach der Rolle der Stellung der Gewerkschaften. Nun, im Buch ist hier und da geradezu verdruckst von „kollektiven Organisationen“ die Rede, das müssen wohl die Gewerkschaften sein. Aber systematisch einschlägig ist folgende Auskunft, die ich doch zitieren muss: „Die unaufhaltsame Bürokratisierung der Gewerkschaften, die der Preis ist, den sie für ihre staatlich verankerte Verhandlungsmacht zahlen müssen, ist zugleich das Einfallstor für die Verkümmerung ihrer sozialmoralischen Rolle“ (S. 380).

Aber diese Bemerkung ist eigentlich nur das i-Tüpfelchen. Das Grundproblem besteht darin, dass für Axel Honneth der antagonistische Konflikt, der im Rahmen der Tarifautonomie verhandelt, sprichwörtlich ausgekämpft wird, keinen grundbegrifflichen Stellenwert hat. Die Gerechtigkeit in der Arbeitswelt ist kein Problem an und für sich. Sie ist darum überhaupt keine selbständige Kategorie. Die Ungerechtigkeit in der Arbeitswelt schlägt sich bei Honneth lediglich bisweilen als Benachteiligung in der gleichberechtigten Teilhabe im öffentlichen Prozess staatlicher Gesetzgebung nieder. Die Frage eines – unter kapitalistischen Vorzeichen – gerechten Anteils der Beschäftigten an der Wertschöpfung und einer gerechten Verteilung dieses Anteils innerhalb der Beschäftigten, stellt sich für ihn nicht. Sie stellt sich jedenfalls nicht als eine Frage, die im Rahmen einer gesellschaftskritischen Demokratietheorie zu beantworten wäre. Dass es einen berechtigten Anspruch für sich genommen darstellt - ohne Nachweis nachteiliger Auswirkungen auf die Beteiligung an der staatlichen Politik – Normen über die Arbeitsbedingungen auszuhandeln, damit sie nicht vom Arbeitgeber vorgegeben werden können, das vermag Honneth nicht zu repräsentieren.

V. Tarifautonomie als Wirtschaftsdemokratie

Wenn der staatliche Gesetzgeber tätig wird, dann handelt er natürlich nicht privatautonom, sondern in Ausübung politischer Autonomie. Das gilt nicht nur, wenn der Gesetzgeber öffentliches Recht erlässt, sondern auch, wenn er Rechtsnormen für private Rechtsverhältnisse erlässt oder ändert. Wenn nun die Tarifvertragsparteien, wie vorhin erläutert, im Feld der Arbeitsbeziehungen Rechtsnormen setzen, die für vertragliche Arbeitsverhältnisse dasselbe leisten wie staatliche Gesetze, dann spricht das dafür, die Tarifautonomie nicht als Privatautonomie zu verstehen, sondern als weitere Erscheinungsform politischer Autonomie. (In der Alltagssprache ist das übrigens unproblematisch präsent: Öffentlich wird ständig von Tarifpolitik gesprochen, und so heißen auch die zuständigen Abteilungen in den Verbänden.)

Diese politische Autonomie ist allerdings nicht eigentlich die politische Autonomie des staatlichen Gesetzgebers, die er im Zuge einer Delegation an die Tarifvertragsparteien weitergereicht hätte. Das zeigt sich schon an der institutionellen Absonderung der Tarifautonomie gegenüber dem staatlichen Gesetzgeber durch die verfassungsrechtliche Garantie der Koalitionsfreiheit.

Nur einen der Gründe will ich an dieser Stelle akzentuieren: Der Streit um die Gerechtigkeit in den Arbeitsbeziehungen ist verselbständigt gegenüber dem Streit um die Erfüllung der Staatsaufgaben, also öffentliche Sicherheit, Gemeinwohl oder Daseinsvorsorge. Im Konflikt um die Gerechtigkeit in den Arbeitsbeziehungen sollen sich die Kräfte der Beschäftigten als Beschäftigte bündeln, unabhängig davon wie sie zu bestimmten Staatsaufgaben stehen. Ihre Vorstellung von gerechten Arbeitsbeziehungen sind kein Gegenstand einer umfassenden Kompromissbildung, bei der alles Mögliche auf dem Tisch liegt, und wo etwa eine Lohnerhöhung gegenüber einer neuen Sozialleistung oder auch gegenüber einer verteidigungspolitischen Zeitenwende zurücktreten müsst.

Die tarifpolitische Autonomie ist aber nicht nur institutionell abgesondert, sie vollzieht sich auch einer anderen Form. Der Inhalt tarifvertraglicher Normen wird nicht durch Abstimmung in gesetzgebenden Körperschaften bestimmt und durch Veröffentlichung in Geltung gesetzt. Der Inhalt wird durch die Aushandlung eines Kompromisses bestimmt und durch die Schriftform in Geltung gesetzt. Die Gestaltungsmacht eines Akteurs hängt im Falle tarifvertraglicher Normsetzung nicht von der Anzahl der Sitze im Parlament ab und damit von Wählerstimmen ab. Sie hängt vom Streikdruck ab, also wesentlich von der Streikbereitschaft der Beschäftigten.

Damit zeigt sich, was in der kritischen Demokratietheorie ausgeblendet ist: In der modernen Gesellschaft, das ist die liberale (also privatkapitalistische) und demokratische Gesellschaft, entfaltet sich die Demokratie nicht nur im Staat. Sie hat vielmehr eine zweifaltige Form. Sie entfaltet sich nicht nur in der Sphäre des Staates, sondern auch in der Sphäre der Wirtschaft. Sie entfaltet sich nicht nur im Staat als Volkssouveränität, sondern sie entfaltet sich in der Wirtschaft als Tarifautonomie. Tarifautonomie ist die grundlegende Form, die die Demokratie in der modernen Gesellschaft in der Sphäre der Wirtschaft annimmt. Tarifautonomie ist Wirtschaftsdemokratie.

Zweifaltig zeigt sich damit auch der politische Status des einzelnen. Individuelle Grundlage der Demokratie im Staat, der Volkssouveräntät, ist die Staatsbürgerschaft. Man erwirbt sie mit Geburt oder sie wird später verliehen. Individuelle Grundlage der Demokratie in der Wirtschaft, der Tarifautonomie, ist die Tarifbürgerschaft - so habe ich das in Anlehnung an die berühmte Marshall’sche Wortschöpfung einer industial citizenship benannt. Das für alle gleiche Teilhaberecht des Staatsbürgers ist der Wahlakt. Das für alle gleiche Teilhaberecht des Tarifbürgers ist nicht die Betritt zur Gewerkschaft, sondern der Akt der Streikteilnahme.

Mit dem Verständnis von Tarifautonomie als Wirtschaftsdemokratie verknüpft sich freilich eine Implikation, die im geltenden Kollektivarbeitsrecht zumindest nicht breit anerkannt ist. Im geltenden Kollektivarbeitsrecht ist die Normsetzung nur für individuelle Arbeitsbedingungen unangefochten. Für kollektive Arbeitsbedingungen sollen Rechtsnormen nur gesetzt werden dürfen, wenn eine einheitliche Regelung für den Vollzug des gemeinsamen Arbeitsprozesses zwingend erforderlich ist. Für andere Felder, insbesondere für unternehmerische Entscheidungen, sollen keine Normen gesetzt werden dürfen und damit kann um sie allemal nicht gestreikt werden. Das Verständnis von Tarifautonomie als Wirtschaftsdemokratie drängt darauf, diese Restriktionen des geltenden Rechts aufzuheben.

An einer Stelle rechne ich freilich mit Widerspruch. Er dürfte ebenso aus der Verfassungslehre wie aus der Sozialwissenschaft kommen: Demokratie meine doch die für alle gleiche Teilhabe, und die gebe es doch nur innerhalb des Lagers der Beschäftigten. Was legitimiere denn die Stellung der Arbeitgeberseite, ihre Macht als Vertragspartei? Wirtschaftsdemokratie bezeichne gerade nicht die Tarifautonomie, sondern eine Ordnung, in der diese Macht aufgehoben, und damit die Rolle der Arbeitgeber letztlich verschwunden sei.

Es liegt mir fern, eine solche Ambition, die Ambition zur Vergesellschaftung von Boden und Produktionsmitteln, zurückzuweisen. Aber ich widerspreche zum einen terminologisch: Die Ambition zielt nicht auf Wirtschaftsdemokratie, sondern auf demokratischen Sozialismus. Ich widerspreche aber vor allem begrifflich, wenn auf der Basis solcher Ambition der Tarifautonomie der Status als Form der Demokratie abgesprochen werden soll.

Ich möchte es so ausdrücken: Wirtschaftsdemokratie setzt voraus, dass es eine gegenüber dem Staat abgesonderte Sphäre der Wirtschaft gibt. Sie ist abgesondert durch das Privateigentum an Boden und Produktionsmitteln. Solange es überhaupt diese abgesonderte Sphäre der Wirtschaft gibt, muss die Demokratie die Form der Tarifautonomie annehmen. In der hat die gleiche Teilhabe der Beschäftigten ein Gegenüber in Gestalt der Arbeitgeberseite, den sie nicht überstimmen kann, sondern dem sie die Normsetzung abtrotzen muss. Die Macht dieses Gegenübers ist natürlich nicht demokratisch legitimiert, sondern es ist die Folge der privatkapitalistischen Form. Diese Form findet die Demokratie in der modernen Gesellschaft vor und schreibt sich als Tarifautonomie in diese Form hinein, genauso wie die Demokratie den Staat der modernen Gesellschaft vorgefunden hat und sich als Volkssouveränität in ihn hineingeschrieben hat.

Die Quintessenz meiner Darstellung ist aber, Tarifautonomie nicht als defizitär zu begreifen gegenüber einer wahrhaft wirtschaftsdemokratischen Ordnung, sondern eben als Erscheinungsform, die die Demokratie unter den Vorzeichen der modernen Gesellschaft annimmt. Unter diesen Vorzeichen bezeichnen Tarifautonomie und Wirtschaftsdemokratie dasselbe. Gerechtigkeit in den Arbeitsbeziehungen ist unter liberalen Bedingungen keine Angelegenheit des Staates. Aber es ist auch keine Privatsache. Es ist eine Sache der Demokratie. Demokratie als Tarifautonomie.

 

[1] Jedenfalls verfehlt die Vorstellung der Gleichursprünglichkeit den demokratischen Rechtsstaat, als dessen Theorie sie antritt. Den demokratischen Rechtsstaat zeichnet schließlich aus, dass die private Autonomie die Reichweite der politischen Autonomie begrenzt, darum kann der Inhalt privater Autonomie nicht durch politische Autonomie bestimmt sein. Die Grenze bildet die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und jedenfalls der Wesensgehalt der Freiheitsrechte (Art. 19 Abs. 2 GG). Die begrenzen auch gegen die verfassungsändernde Autonomie (Art. 79 Abs. 3 GG).

Unser Kolleg